Buchbesprechung bei EqualPages: Teresa Bückers „Alle_Zeit“

Am 15. Januar 2025 traf sich unser Buchclub EqualPages zum ersten Mal, um Teresa Bückers Werk Alle_Zeit zu diskutieren. Die erste Buchauswahl hätte nicht passender sein können: Ein Buch, das uns zwingt, unsere Beziehung zur Zeit, zur Arbeit und zueinander zu hinterfragen. Das sollte der Einstieg sein in einen Buchclub, der Gleichstellung und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Hier möchte ich einige der zentralen Gedanken aus unserer Diskussion mit euch teilen.

Zeitkonfetti: Warum wir uns fragmentiert fühlen

Eine der einprägsamsten Metaphern in „Alle_Zeit“ ist das „Zeitkonfetti“. Es beschreibt die vielen kleinen, zerrissenen Zeitabschnitte, die uns im Alltag bleiben – zu kurz, um etwas Sinnvolles oder Erfüllendes zu tun, und oft unterbrochen von beruflichen und familiären Verpflichtungen. Diese zersplitterte Zeit prägt vor allem das Leben von Frauen, die durch Care-Arbeit und mentale Last häufig keine ununterbrochenen Zeitfenster mehr finden.

„Zeitkonfetti“ ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein strukturelles Problem. Die zersplitterte Zeit ist eine Folge von Arbeitszeitmodellen, die auf Maximierung von Produktivität ausgelegt sind, ohne die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen.

In unserer Diskussion wurde deutlich, wie sehr uns dieses Zeitkonfetti belastet. Wir jonglieren mit winzigen Zeiteinheiten, ohne dass sie uns echte Erholung oder Zufriedenheit bringen. Die Frage, die wir uns stellten, lautete: Wie können wir diesem fragmentierten Leben entkommen und wieder zu zusammenhängender, erfüllender Zeit finden? Teresa Bückers Vorschlag im Buch: „Radikal Prioritäten setzen und Zeit als Beziehungsgeschehen verstehen.“

 

Zeitungerechtigkeit: Wer bezahlt mit seiner Zeit?

Ein weiterer zentraler Punkt der Diskussion war die Zeitungerechtigkeit. Bücker beschreibt, wie privilegierte Menschen Zeit kaufen, indem sie weniger privilegierten Menschen Aufgaben abgeben. Ein Beispiel: Ich bezahle eine Reinigungskraft, um Zeit für mich zu gewinnen. Aber die Reinigungskraft hat dadurch weniger Zeit für ihre eigenen Bedürfnisse, ihre Familie oder Erholung – und wird oft noch schlechter bezahlt, als ich in der selben Zeit verdiene.

Dieser Gedanke traf viele von uns ins Mark, da wir selbst Teil dieser Ungerechtigkeit sind. Die Bequemlichkeit, Zeit zu „kaufen“, verschleiert oft die systemischen Ungerechtigkeiten dahinter. Ist es fair, dass der Wunsch nach mehr Zeit für uns selbst auf Kosten anderer geht? Oder könnten wir alternative Modelle entwickeln, die Zeit für alle gerechter verteilen?

In einem Streitgespräch, das im Mai 2024 im Spiegel erschienen ist, kritisierte Michael Hüther diesen Punkt mit dem Hinweis, dass eine funktionierende Marktwirtschaft gewisse Ungleichheiten in Kauf nehmen müsse. Bücker entgegnete jedoch, dass diese Argumentation die Gerechtigkeitsfragen ausblende: Ist es wirklich gerecht, wenn die Zeit der einen auf Kosten der anderen erkauft wird? Sie fordert eine tiefgreifende gesellschaftliche Debatte über die Wertschätzung von Zeit und Arbeit, die weit über die ökonomischen Modelle hinausgeht.

Das komplette Streitgespräch kannst du hier lesen.

 

Der Maßstab der Erwerbsarbeit

Wer viel Zeit für Erwerbsarbeit aufbringen kann, wird als leistungsfähig und erfolgreich wahrgenommen – ein Maßstab, der Frauen, Eltern und insbesondere Mütter benachteiligt. Eine Tatsache, die uns allen immer wieder spätestens dann bewusst wird, wenn es heißt „Leistung muss sich wieder lohnen“ und Care-Arbeitende sich fragen, welche Leistung der Spitzenpolitiker gerade meint, der das sagt.

Im Buch beschreibt Bücker, wie diese einseitige Bewertung von Leistung zu einer strukturellen Abwertung von Care-Arbeit führt. Erwerbsarbeit wurde historisch als Maßstab etabliert, doch das Buch macht deutlich, dass dieses System eine enge Sichtweise auf menschliche Fähigkeiten und Potenziale fördert.

 

Freiheit und Kinder: Wie frei sind wir wirklich?

Ein besonders emotionaler Punkt war Bückers provokative Frage: „Wie frei sind wir als Menschheit, wenn wir die volle Freiheit nur ohne Kinder denken können?“ Kinder werden oft als Hindernis für persönliche Entfaltung gesehen und gleichzeitig als der Mittelpunkt der persönlichen Entfaltung der Mütter betrachtet. Das zeigt deutlich die geschlechtliche Zuordnung von Care-Arbeit und die Möglichkeit, dass Zeit auch mit Liebe bezahlt werden kann. Die dann allerdings in unserem Wirtschaftssystem als Währung nicht anerkannt wird, was zu extremer Ungleichheit führt. Dass wir den Erhalt unserer Gesellschaft aus dem erschaffenen System ausklammern, kann durchaus als sehr paradox und falsch betrachtet werden.

Kinder leben im Jetzt – und wir sprechen es ihnen ab

Eine berührende Passage in Alle_Zeit beschreibt, wie Kinder im Moment leben – im Jetzt. Doch diese natürliche Fähigkeit wird ihnen oft abgesprochen und abtrainiert, weil wir sie in unsere durchgetakteten Zeitpläne pressen.

Wie oft ermahnen wir selbst Kinder, schneller zu sein oder sich „zusammenzureißen“? Dabei könnten wir so viel von ihnen lernen, wenn es darum geht, präsent zu sein und die Gegenwart zu schätzen.

 

Leben wir artgerecht?

Ein zentraler Kritikpunkt Bückers ist, dass unsere moderne Lebensweise nicht „artgerecht“ ist. Unsere Art zu arbeiten, Zeit zu verbringen und Beziehungen zu gestalten, bringt viele Schäden mit sich – von Burnout über soziale Isolation bis hin zu Umweltzerstörung.

Im Streitgespräch sagte Hüther dazu, dass die Marktwirtschaft die Grundlage unseres Wohlstands sei und Anpassungen genügen würden, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Wobei soziale Gerechtigkeit und Gesunderhaltung meiner Meinung nach nochmal getrennte betrachtet werden sollten. Bücker widersprach ihm auch direkt: Ein System, das Menschen auf Dauer erschöpft, könne nicht nachhaltig sein. Es gehe nicht um kleine Anpassungen, sondern um einen Paradigmenwechsel. Damit schliesst sich direkt die nächste Frage an:

 

Ist unser Arbeitssystem noch zeitgemäß?

„Schon das Wort: Vollzeiterwerbsarbeit. Wer will das denn wirklich? Dieses Wort blamiert sich doch bereits beim Sprechen als etwas sehr Inhumanes: Vollzeit, das ist ja alle Zeit, die ich habe. Soll ich alle Zeit für Lohnarbeit aufbringen?“

Zitat Frigga Haug

Zum Abschluss kamen wir auf eine der zentralen Fragen des Buches: Ist unser Arbeitssystem mit den Zeiten, die wir heute als Maßstab anlegen, überhaupt noch zeitgemäß? Was wäre, wenn wir alle wirklich gleich viel Erwerbsarbeit leisten würden?

Doch wie könnten wir diesen Wandel gestalten? Eine radikale Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Care-Arbeit wäre ein erster Schritt. Doch dazu braucht es gesellschaftlichen und politischen Willen.

Teresa Bücker plädiert in ihrem Buch für eine radikale Umverteilung der Arbeitszeiten. Wenn alle Menschen gleich viel Erwerbsarbeit leisten würden, könnte sich eine gerechtere Gesellschaft entwickeln. Hüther hält dagegen, dass solche Forderungen die wirtschaftliche Dynamik ausbremsen könnten.

Gerechte Gesellschaft vs. wirtschaftliche Dynamik – das ist die Gegenüberstellung, in der immer die Wirtschaft gewinnt. Ist das gut für uns Menschen? Ich habe darauf keine Antwort – doch die Utopie, die dahinter steht, gefällt mir unglaublich gut.

 

Fazit: Zeit als Grundlage für Gerechtigkeit

Alle_Zeit hat uns gezeigt, dass Zeit weit mehr ist als ein individueller Faktor. Sie ist eine gesellschaftliche Ressource, die gerecht verteilt werden muss. Wir sind und einig, dass dieses Buch in seiner radikalen Art, Dinge neu zu betrachten und zu denken, unglaublich inspirierend und wertvoll ist und ich würde mir wünschen, dass es noch viele, viele Menschen lesen und hoffe, durch mein Tun dazu einen Beitrag zu leisten.

Ich freue mich schon auf die nächste Diskussion bei EqualPages – und hoffe, dass wir mit jeder Buchbesprechung ein Stückchen mehr zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen können.

Möchtest du gerne Teil des Buchclubs sein oder einfach nur still mitlesen und die Zusammenfassungen der Bücher direkt in dein Postfach bekommen? Dann melde dich gerne zum Buchclub an. Ich freue mich auf alle Leserinnen und Leser.

versenden
teilen
twittern
teilen
mitteilen

Das könnte dir auch gefallen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Über mich

Hallo, ich bin Katrin Fuchs, studierte Betriebswirtin, ausgebildete Vereinbarkeitsmanagerin und Coach

Erfahre hier mehr über mich

Die neusten Artikel

Mein Geschenk für dich

Melde dich hier zum Newsletter an und freue dich auf Inspiration rund um die Planung eures Familiensystems direkt in deinem Postfach:

Details zum E-Mailversand findest du hier.

Buchclub EqualPages

Wenn du einen Ort suchst, um dich mit Gleichgesinnten auszutauschen, werde Teil von EqualPages und tauche ein in inspirierende Literatur rund um die Themen Gerechtigkeit & Gleichstellung. 

Details findest du hier mit einem Klick

Verbinden wir uns

Teste Mama-Flow für 0 Euro

Möchtest du in deinem hektischen Alltag wieder mehr für dich selbst sorgen?

Der 12-wöchige E-Mail-Kurs „MamaFlow“ bietet dir die Tools und Techniken, um genau das zu erreichen. Als Leserin meines Blogs kannst du hier die erste E-Mail für 0 Euro testen und den ersten Schritt zu mehr Selbstliebe und Gelassenheit machen – ganz unverbindlich!

Mit deiner Anmeldung bist du einverstanden, dich für meinen Newsletter anzumelden und regelmäßig Tipps rund um Vereinbarkeit und Themen aus dem Familienalltag zu erhalten. Unverbindlich und jederzeit mit einem Klick wieder abbestellbar. Details zum E-Mailversand und Datenschutz findest du hier.