Deutschland, ein kinderfeindliches Land? Worunter Familien leiden und was sich ändern muss

Ein ganz persönlicher Rückblick auf die Lesung mit Nathalie Klüver

Heute hatten wir im Buchclub EqualPages das große Vergnügen, mit der Autorin und Journalistin Nathalie Klüver über ihr Buch „Deutschland, ein kinderfeindliches Land?“ zu sprechen. Was als geplante journalistische Kurzrecherche begann, wurde schließlich zu einem über 200 Seiten starken Werk – fundiert, faktenbasiert und aufrüttelnd.

Ursprünglich wollte Nathalie Klüver nur einem Gefühl nachgehen: Dem Eindruck vieler Eltern, in Deutschland systematisch alleingelassen zu werden. Ein Gefühl, das während der Corona-Pandemie besonders deutlich zutage trat. Aber war es tatsächlich „nur“ ein Gefühl – oder steckt strukturelle Benachteiligung dahinter?

Schon bald zeigte sich: Die Realität von Familien in Deutschland ist kein Einzelfall, kein subjektives Empfinden. Es handelt sich vielmehr um ein komplexes System struktureller Schieflagen, politischer Kurzsichtigkeit und kultureller Prägungen – das in vielen Lebensbereichen sichtbar wird.

Buchcover von Deutschland, ein kinderfeindliches Land?

 

Wenn Kinder im „Sichtrasen“ stören

Eines der vielen Beispiele, das Nathalie im Buch nennt, ist der sogenannte „Sichtrasen“ – also jene gepflegten Grünflächen zwischen Mehrparteienhäusern, die offiziell „zur Nutzung“ gedacht sind, aber de facto nicht bespielt werden dürfen. Denn wenn nur eine Partei im Haus etwas gegen spielende Kinder hat, ist das Spielverbot quasi automatisch beschlossen. Das mag wie eine Petitesse wirken, zeigt aber beispielhaft, wie Kinder in vielen Kontexten als Störung wahrgenommen werden – nicht als Teil der Gesellschaft.

 

Kinderrechte? Fehlanzeige.

Erschütternd ist auch der Blick auf die politischen Rahmenbedingungen. Kinderrechte stehen in Deutschland nicht im Grundgesetz. Während der Pandemie hatte das gravierende Folgen: Kita- und Schulschließungen wurden flächendeckend beschlossen – ohne dass das Kindeswohl juristisch angemessen abgewogen werden musste. Wären Kinderrechte verfassungsrechtlich geschützt gewesen, hätte man nicht so leichtfertig über die Bedürfnisse der Jüngsten hinweg entscheiden können.

 

Kinderfeindlich – oder einfach kinderentwöhnt?

Doch ist Deutschland wirklich kinderfeindlich? Oder vielleicht eher kinderentwöhnt? Eine These, die heute viele von uns bewegt hat. Denn Eltern sind es längst gewohnt, sich anzupassen: Sie gehen früh ins Restaurant, essen schnell, stillen auf Toiletten – zum Teil, weil es von ihnen verlangt wird, zum Teil aus einem vorauseilenden Gehorsam heraus, „nicht zu stören“. Kinder und Eltern sind oft unsichtbar im öffentlichen Raum.

Doch was wäre, wenn wir uns und unsere Kinder bewusster der Gesellschaft zumuten? Wenn wir unsere Realität sichtbar machen – nicht nur in Krabbelgruppen und Elternchats, sondern generationsübergreifend?

Denn vielen kinderlosen Menschen oder Älteren fehlt schlicht die Vorstellungskraft, was heute das Leben mit Kindern bedeutet: Dass Kitas plötzlich schließen können. Dass beide Eltern arbeiten müssen, um überhaupt die Miete zahlen zu können. Dass das sogenannte „traditionelle Familienmodell“ für viele weder realistisch noch wünschenswert ist.

 

Von alten Bildern und politischer Konzeptlosigkeit

Interessant sind in diesem Kontext auch die historischen Linien. Noch in den 1950er Jahren sagte Konrad Adenauer: „Kinder bekommen sie immer.“ Eine fatalistische Aussage, die sinnbildlich für die bis heute spürbare politische Haltung steht. Nachwuchs – so die unausgesprochene Annahme – komme schon irgendwie. Doch Adenauer kannte die Pille noch nicht. Heute ist Elternschaft eine bewusste Entscheidung – und doch verhalten sich viele politische Strukturen, als sei Familienleben ein Selbstläufer.

 

Dass es auch anders geht, zeigen andere Länder:

  • Frankreich misst seine Familienpolitik an der Geburtenrate,
  • Großbritannien an der Kinderarmut,
  • Deutschland? Versucht es allen ein bisschen Recht zu machen – und trifft am Ende niemanden richtig.

 

Ein übergeordnetes familienpolitisches Ziel fehlt. Stattdessen ein Flickenteppich aus Zuständigkeiten, erschwert durch den Föderalismus und flankiert von Relikten wie dem Ehegattensplitting, unflexiblen Kita-Öffnungszeiten und familienfernen Arbeitszeitmodellen.

 

Haben wir genug Respekt für unsere Kinder?

Eine zentrale Frage aus dem Gespräch hat mich besonders nachdenklich gemacht:
Wie viel Respekt haben wir als Gesellschaft eigentlich für unsere Kinder? So viel, wie wir von ihnen erwarten?

Wir erwarten, dass sie sich in maroden Schulen zurechtfinden, mit Leistungsdruck umgehen, stillsitzen, funktionieren – und am Ende jene Systeme mittragen, die wir ihnen in diesem Zustand überlassen. Ist das gerecht?

Schon jetzt zeigt sich Widerstand: Die Generation Z sucht andere Lebenswege, hinterfragt bestehende Strukturen, lehnt klassische Erwerbsbiografien oft ab. Können wir es ihnen verdenken?

 

Westdeutscher Tunnelblick

Ein weiterer interessanter Impuls betraf die Betrachtung deutscher Familienpolitik durch eine westdeutsche Brille. Ohne die DDR zu verklären – auch dort gab es massive strukturelle und emotionale Defizite, wie etwa die Wochenkrippen zeigen – kann man dennoch fragen: Haben wir genug hingeschaut, bevor wir das westdeutsche Modell zur Norm erhoben haben? In der DDR war vieles selbstverständlicher organisiert: Kinderbetreuung, Gleichstellung in Erwerbsfragen, gesellschaftliche Teilhabe von Familien.
Vielleicht wäre es an der Zeit, nicht nur im Rückspiegel, sondern auch mit internationalem Weitblick auf gelungene Modelle zu schauen.

 

Visionen für ein kinderfreundliches Deutschland

Was wäre, wenn jede politische Entscheidung künftig darauf geprüft würde, ob sie auch Kindern und Jugendlichen nützt? Was wäre, wenn es ein Wahlrecht ab Geburt gäbe, das über stellvertretende Stimmen der Eltern ausgeübt werden könnte? Oder wenigstens ein Wahl-O-Mat für Kinder? Wer bestimmt eigentlich, dass Kinder nicht wählen dürfen – während man es Demenzkranken ausdrücklich erlaubt?

Und vor allem:
Wie schaffen wir es als Eltern, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen?

Wie gelingt es, dass Familienfreundlichkeit kein Marketinglabel bleibt, sondern eine gelebte Haltung wird – in Betrieben, in der Stadtplanung, in der Politik?

Vielleicht beginnt es genau hier:
Indem wir uns zeigen.
Indem wir sprechen – über Herausforderungen, über Ungleichheiten, über unsere Wünsche für ein besseres Miteinander.
Indem wir nicht länger allein durch die Kita kämpfen, durch Care-Arbeit navigieren und uns rechtfertigen, sondern gemeinsam auftreten. Als Eltern. Als Gesellschaft.

Denn am Ende gilt:
Wir können uns entscheiden, keine eigenen Kinder zu bekommen – aber wir dürfen uns niemals gegen Kinder entscheiden.

Denn sie sind es, die uns in Zukunft tragen werden. Uns alle.

 

Möchtest du auch im Buchclub EqualPages sein und an Lesungen und Buchbesprechungen teilnehmen?

Dann schau gerne hier vorbei. Hier findest du die kommenden und vergangenen Veranstaltungen und kannst dich kostenlos anmelden.

versenden
teilen
twittern
teilen
mitteilen

Das könnte dir auch gefallen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Über mich

Hallo, ich bin Katrin Fuchs, studierte Betriebswirtin, ausgebildete Vereinbarkeitsmanagerin und Coach

Erfahre hier mehr über mich

Die neusten Artikel

Mein Geschenk für dich

Melde dich hier zum Newsletter an und freue dich auf Inspiration rund um die Planung eures Familiensystems direkt in deinem Postfach:

Details zum E-Mailversand findest du hier.

Buchclub EqualPages

Wenn du einen Ort suchst, um dich mit Gleichgesinnten auszutauschen, werde Teil von EqualPages und tauche ein in inspirierende Literatur rund um die Themen Gerechtigkeit & Gleichstellung. 

Details findest du hier mit einem Klick

Jahreskreis Frauen.Raum

Wir sprechen über Themen, die tief gehen und tauschen uns ehrlich aus. Wir stärken und halten einander. Und wir erinnern uns daran, was wir nicht verlieren wollen: uns selbst.

Erfahre hier mehr über den Frauen.Raum

Verbinden wir uns

Teste Mama-Flow für 0 Euro

Möchtest du in deinem hektischen Alltag wieder mehr für dich selbst sorgen?

Der 12-wöchige E-Mail-Kurs „MamaFlow“ bietet dir die Tools und Techniken, um genau das zu erreichen. Als Leserin meines Blogs kannst du hier die erste E-Mail für 0 Euro testen und den ersten Schritt zu mehr Selbstliebe und Gelassenheit machen – ganz unverbindlich!

Mit deiner Anmeldung bist du einverstanden, dich für meinen Newsletter anzumelden und regelmäßig Tipps rund um Vereinbarkeit und Themen aus dem Familienalltag zu erhalten. Unverbindlich und jederzeit mit einem Klick wieder abbestellbar. Details zum E-Mailversand und Datenschutz findest du hier.

FRAUEN.RAUM – VERBUNDEN. GESTÄRKT. ECHT.

Der Jahreskreis für Frauen, die sich selbst begegnen wollen

Für Frauen, die nicht mehr nur funktionieren wollen – sondern wieder fühlen, gestalten und verbunden sein wollen.
Für Frauen, die spüren: So wie es ist, darf es nicht bleiben.
Und die sich nicht mehr allein damit fühlen wollen.

Der Jahreskreis ist ein geschützter Raum für ehrliche Begegnung, tiefes Erinnern und heilsame Verbindung.

Sei ab September dabei – hier findest du alle Infos & Termine: