Am 15. April 2025 traf sich der Buchclub EqualPages zu einer besonderen Buchbesprechung – mit einer ganz besonderen Gästin: der Autorin Nora Burgard-Arp. Im Mittelpunkt stand ihr dystopischer Roman „Wir doch nicht“, der eindrucksvoll zeigt, wie schnell sich eine freie Demokratie in ein totalitäres Regime verwandeln kann. Ein Abend voller Nachdenklichkeit, Austausch und der drängenden Frage: Was können und müssen wir heute tun, um zu verhindern, dass diese Geschichte Realität wird?
Von der Fiktion zur Realität – eine beängstigende Nähe
Als Nora Burgard-Arp im Jahr 2022 dieses Buch schrieb, lag die AfD noch bei etwa 10 Prozent. Nur wenige Jahre später führt sie in der Sonntagsfrage erstmals die Umfragen an. Schon bei der ersten Lektüre kurz nach dem Erscheinen war mir klar: Diese Dystopie ist kein fernes Gedankenspiel. Vieles war bereits sichtbar – die Sprache, die Rhetorik, das Framing. Nora Burgard-Arp hat die Inhalte ihres Romans sorgfältig recherchiert und reale politische und gesellschaftliche Entwicklungen in ihr Werk einfließen lassen. Und so liest sich „Wir doch nicht“ heute, im Jahr 2025, nicht mehr nur als Warnung, sondern beinahe als Handlungsanleitung für Populisten.
Auch Entwicklungen in den USA, wo innerhalb weniger Wochen fundamentale Veränderungen durchgesetzt werden, spielen eine Rolle. Entscheidungen, die die Rechte von Frauen beschneiden, marginalisierte Gruppen unsichtbar machen und weiße, elitäre Männlichkeit als vermeintliches Maß aller Dinge präsentieren, erinnern erschreckend an das Szenario im Buch. Immer wieder hören wir: „Wir bringen euch Freiheit“, doch was tatsächlich umgesetzt wird, ist das Gegenteil davon.
Die Geschichte von Mathilda – eine Heldin im Schweigen?
Im Zentrum des Romans steht Mathilda, 37 Jahre alt, Ehefrau – und Bürgerin eines autoritären Staates, der Frauen auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Als sie ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich für eine heimliche Abtreibung – ein Verbrechen, das mit lebenslanger Haft bestraft wird. Ihr Schweigen, ihr Rückzug, ihre Passivität über weite Strecken des Buches sind verstörend und machen wütend. Als Leserin will man sie schütteln, ihr zurufen: „Wach auf, steh für dich ein!“
Gleichzeitig ist genau diese Zurückhaltung eine kluge Erzählentscheidung. Denn sie zeigt, wie sich Menschen – nicht nur Frauen – in ein System fügen, das ihnen nach und nach alle Handlungsspielräume nimmt. Es braucht Zeit, bis Mathilda beginnt, innerlich aufzubegehren. Erst als ihre körperlichen und seelischen Verletzungen nicht mehr zu übersehen sind, wird ihr klar, dass sie handeln muss.
Cleo – ein Lichtblick des Widerstands
Dem gegenüber steht Cleo, eine starke Nebenfigur, die sich nicht beugt, sondern laut und unbequem bleibt. Cleo wählt den anstrengenden Weg, stellt sich gegen die Konventionen und zeigt: Es gibt immer Alternativen. Sie wird zur Projektionsfläche für unsere eigene Sehnsucht nach Mut, nach Klarheit, nach Widerstand. In unseren Diskussionen im Buchclub wurde Cleo mehrfach als heimliche Heldin des Buches bezeichnet – und als Identifikationsfigur für all jene, die sich gegen Ungerechtigkeit stellen.
Die Mutter – feministische Wegbereiterin oder nervige Mahnerin?
Mich persönlich hat die Figur von Mathildas Mutter besonders beschäftigt. Sie lebt längst im Exil, gemeinsam mit ihrer schwarzen Freundin, beide überzeugte Feministinnen. Immer wieder versucht sie, Kontakt zu ihrer Tochter zu halten, ihr zu zeigen, was ist, sie aufzuwecken. Doch Mathilda empfindet das als Einmischung, als Bevormundung, als Belastung.
Hier stellt sich eine zentrale Frage: Wie gehen wir als Mütter mit Kindern um, die in einem autoritären System aufgewachsen sind – die gar nicht mehr erkennen, was Freiheit bedeutet? Wie erreichen wir sie, ohne sie zu überfordern oder den Kontakt zu verlieren? Die Beziehung zwischen Mathilda und ihrer Mutter ist ein Spiegel für viele reale Auseinandersetzungen in Familien, in denen politische Haltungen auseinanderdriften. Sie zeigt: Es gibt keine einfachen Antworten.
Finn – der Ehemann zwischen Anpassung und Ambivalenz
Eine Figur, die in unserer Diskussion ebenfalls viele Fragen und Emotionen aufgeworfen hat, ist Finn, Mathildas Ehemann. Er ist freundlich, pragmatisch und kommt aus privilegiertem Haus – und ist Teil des Systems. Er profitiert von seiner Rolle als Mann, stellt wenig infrage und hält sich aus Konflikten heraus. Gleichzeitig ist spürbar, dass auch er leidet, dass ihn Zweifel plagen. Doch er zieht keine Konsequenzen daraus. Am Ende zählt sein eigener Vorteil und wenn für seine berufliche Karriere notwendig ist, dass Mathilda ein Kind bekommt, das sie nicht will, dann erklärt er ihr deutlich, was ihre Pflichten seien.
Finn verkörpert jene Mitläufer, die sich nicht aktiv beteiligen, aber auch nicht widersprechen – und damit das System stützen. Seine Figur ist unbequem, weil sie so realistisch ist. Denn wie oft begegnen wir im echten Leben Menschen, die lieber schweigen, anpassen, mitmachen, sich im Zweifel gegen ihre Lieben und auf die Seite des Systems stellen, obwohl sie wissen, dass etwas falsch läuft. Finn zeigt, wie schwer es ist, Zivilcourage zu zeigen – und wie gefährlich es ist, wenn man es nicht tut und wie das zur Entfremdung und Beziehungslosigkeit führt.
Ein System der Kontrolle – erschreckend plausibel
Der Alltag in „Wir doch nicht“ ist geprägt von permanenter Kontrolle und subtiler Gewalt. Frauen treffen sich zu verpflichtenden Stammtischen, bei denen sie Rechenschaft über ihre Körper und Lebenspläne ablegen müssen. Die Regierung (die „SfDD – Sieg für Deutschland und die Deutschen“) hat das Bildungssystem komplett umgestellt, Smartphones und Internetnutzung sind verboten oder nur noch bestimmten Männern erlaubt. Biologiebücher werden neu geschrieben, Geschichte wird umgedeutet, Sprache wird gesäubert. All das ist erschreckend plausibel – nicht nur als Dystopie, sondern als realistische Entwicklung, wenn wir nicht wachsam bleiben.
Frida, Mathildas Freundin, ist eine dieser Figuren, die scheinbar harmlos daherkommen, aber durch ihre Gerüchte und Halbwahrheiten zeigen, wie leicht sich Desinformation verbreiten lässt. Und wie gefährlich sie ist. Auch das ein hochaktuelles Thema, das Burgard-Arp klug in ihre Erzählung einbaut.
Ein Abend mit Nora Burgard-Arp – nahbar, klug und engagiert
Die Buchbesprechung selbst war intensiv und berührend. Nora Burgard-Arp las uns einige ihrer Lieblingsstellen vor, erzählte von der Entstehungsgeschichte des Buches, von der Recherche, vom Schreibprozess. Sie war offen für unsere Fragen, interessiert an unseren Gedanken und Diskussionen. Besonders bewegend war es zu hören, dass sie mit ihrem Buch auch in Schulen geht, um dort mit Jugendlichen über Demokratie, Freiheit, Körperautonomie und gesellschaftliche Verantwortung zu sprechen.
Der Katapult Verlag hat zusätzlich Schulmaterial entwickelt, das Lehrkräften hilft, das Buch im Unterricht zu behandeln. Eine wertvolle Initiative, denn: Gerade junge Menschen müssen früh verstehen, wie fragil Demokratie sein kann – und wie wichtig es ist, sie aktiv zu verteidigen.
Fragt Nora Burgard-Arp also gerne auch für die Schulen an, sprecht mit den Lehrern, ob sie dieses Buch nicht als Einstieg nutzen möchten, um mit Jugendlichen diese wichtigen Themen zu besprechen.
Viele Fragen bleiben offen – und das ist gut so
Das Ende des Romans lässt viel Raum für Interpretation. Wird Mathilda überleben? Wird sie kämpfen? Wird sich etwas ändern? Oder bleibt alles, wie es ist? Der Roman endet mit einer Mischung aus Hoffnung, Frust und Schmerz – und genau das macht ihn so stark. Denn er gibt keine einfachen Antworten. Er zwingt uns, weiterzudenken. Und er zwingt uns auch ins Handeln.
Was können wir tun, um zu verhindern, dass dieses Buch Wirklichkeit wird? Wie begegnen wir rechtspopulistischen Entwicklungen? Wie schaffen wir es, Menschen zu sensibilisieren, ohne sie zu belehren? Wie können wir Allianzen bilden, statt uns zu spalten?
Was ich mitnehme?
Solidarität und Mut dürfen nicht hinten angestellt werden. Es ist wichtig, über meine eigene persönliche Betroffenheit hinaus zu denken und für Freiheit und Gerechtigkeit einzustehen. Zu langes Schweigen ist gefährlich, denn wir gewöhnen uns schnell an neue Sprache und Regeln. Unterstützen wir die Menschen, die sich stark machen für die richtigen Werte. Zeigen wir uns solidarisch und schweigen wir nicht. Angst entsteht schnell, wenn ich allein bin. Verbundenheit gibt mir Mut und daher ist es wichtig, Banden zu bilden, Verbundenheit zu spüren und gemeinsam an Themen zu arbeiten.
EqualPages – Ein Raum für Austausch, Fragen und Verbindung
Der Abend hat erneut gezeigt, wie wichtig Bücher sein können – als Türöffner, als Gesprächsanlass, als Ort der Reflexion. Und wie wichtig Gemeinschaft ist. Es war ein kraftvoller und stärkender Abend, an dem viele Gedanken ausgesprochen wurden, die sonst oft unausgesprochen bleiben. Ein Abend, der Halt gibt, Mut macht und zeigt: Wir sind viele. Und wir sind wachsam.
EqualPages wurde genau dafür gegründet – um über relevante Themen zu sprechen, um gemeinsam zu lesen, zu verstehen, zu wachsen. Danke an alle, die diesen Abend so besonders gemacht haben. Und ein ganz besonderer Dank an Nora Burgard-Arp für ihre Offenheit, ihre Klarheit und ihre unerschütterliche Überzeugung: Dass Worte etwas bewirken können.
Wenn du auch Teil des Buchclubs sein möchtest, dann melde dich gerne an und sei in Zukunft dabei.