Atmende Lebensläufe statt durchgängige Vollzeitarbeit

Das Optionszeitenmodell als Zukunftsvision

In einer zunehmend digitalisierten und alternden Gesellschaft steht das Konzept der Erwerbsarbeit vor neuen Herausforderungen. Traditionelle Erwerbsbiografien, die durchgängige Vollzeitarbeit ohne Unterbrechung voraussetzen, sind nicht mehr zeitgemäß und berücksichtigen weder die sich wandelnden Bedürfnisse der Menschen noch die gesellschaftlichen Anforderungen. Hier setzt das „Optionszeitenmodell“ an, das eine flexible und selbstbestimmte Gestaltung des Erwerbsverlaufs ermöglicht. Dieses Modell sieht vor, dass jedem Menschen ein Zeitbudget von etwa neun Jahren zur Verfügung steht, um Erwerbsarbeit zugunsten gesellschaftlich relevanter Tätigkeiten zu unterbrechen oder zu reduzieren, während sie finanziell abgesichert sind.

Das Optionszeitenmodell versus dem dreiteiligen Lebenslauf aus Bildung, Berufs- und Familienphase und Rente

Mehr Zeit für Sorgearbeit in einer alternden Gesellschaft

Im Kern des Optionszeitenmodells steht die Sorgearbeit – die Fürsorge für Kinder, Alte und Kranke – unabhängig von familiären Bindungen. Mit dem demografischen Wandel wächst die Nachfrage nach Pflege, während das Potenzial an Pflegepersonen sowohl beruflich als auch privat abnimmt. Das Modell sieht daher vor, dass Sorge leistende Personen ein an sie gebundenes Recht auf Optionszeiten haben, um diese wichtige Arbeit zu leisten. Dies geht über die klassische Elternzeit hinaus und ermöglicht eine flexible Reaktion auf verschiedene Lebensphasen und -ereignisse.

Geschlechtergerechte Aufteilung der Sorgearbeit

Ein zentrales Ziel des Optionszeitenmodells ist es, die Beteiligung von Männern an der Sorgearbeit zu erhöhen. Durch die Einführung der Partnermonate bei der Elternzeit hat sich gezeigt, dass eine Änderung der Normen auch das Verhalten nachhaltig beeinflussen kann. Dr. Shih-cheng Lien, wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), betont, dass ohne die Aufwertung von Sorgearbeit, etwa durch bessere Bezahlung, diese Veränderung jedoch schwer zu erreichen ist. Dr. Martina Heitkötter, ebenfalls Projektmitarbeiterin am DJI, ergänzt, dass für eine verlässliche Sorgestruktur auch die Infrastruktur im Bereich der Kindertagesbetreuung und Altenpflege ausgebaut werden muss.

Kontinuierliche Fortbildung in einer digitalisierten Arbeitswelt

Die Optionszeiten sollen Erwerbstätigen die Möglichkeit bieten, flexible Fortbildungen in Anspruch zu nehmen, indem sie Ziehungsrechte nutzen können, um ihre Arbeitszeit temporär zu reduzieren oder zu unterbrechen. Dies erfordert eine Anpassung der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen, die auf den drei Phasen Bildung, Erwerb und Rente basieren. Prof. em. Dr. Ulrich Mückenberger, Leiter des Forschungsprojekts an der Universität Bremen, kritisiert, dass diese traditionellen Modelle nicht mehr zur digitalisierten Arbeitswelt passen, die kontinuierliches Lernen und Fortbilden verlangt.

Ein Recht auf etwa neun Jahre Optionszeiten für alle Menschen

Basierend auf Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zu Zeitverwendungen und -bedarfen schlagen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, jedem Menschen ein Recht auf insgesamt etwa neun Jahre Optionszeiten zu gewähren. Diese Zeit setzt sich zusammen aus etwa sechs Jahren für Sorgearbeit, zwei Jahren für Weiterbildungen und einem Jahr für Selbstsorge. Das Zeitvolumen für Sorgearbeit wurde errechnet aus drei Jahren für Kinderbetreuung, ein bis zwei Jahren für Pflege und einem halben bis einem Jahr für Ehrenamt. Die genaue Aufteilung hängt jedoch vom individuellen Bedarf ab.

Finanzierung des Optionszeitenmodells

Für die Finanzierung des Modells hat das interdisziplinäre Team aus Rechts- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern ein Konzept entwickelt: Die Kosten für die Optionszeiten, in denen die Arbeitszeit reduziert oder ausgesetzt wird, sollen von der Stelle getragen werden, die am meisten davon profitiert. Freistellungen für Sorgetätigkeiten und Ehrenämter, die der Gesellschaft zugutekommen, sollen über öffentliche Gelder finanziert werden. Auszeiten für Weiterbildungen, die primär der beruflichen Qualifikation und damit den Unternehmen dienen, sollen von diesen über Finanzierungspools getragen werden. Zeiten der Selbstsorge sollen von den Individuen selbst übernommen werden, wobei für Geringverdiener eine soziale Sockelung in Form eines situativen Grundeinkommens vorgesehen ist.

Verwaltung der Rechte und Optionen

Bei der Frage, wie die Optionszeiten jedes Menschen über verschiedene berufliche Stationen hinweg verwaltet und wie verbrauchte und verfügbare Zeiten transparent gemacht werden können, denkt das Projektteam an das französische Konzept eines „persönlichen Aktivitätskontos“ (Compte Personnel d’Activité, CPA). Dieses System zeigt, dass eine vom Parlament kontrollierte Instanz ein auf Transparenz und Portabilität angelegtes System von Rechten und Optionen aller arbeitenden Menschen administrieren kann. Dennoch gibt es noch zahlreiche Aspekte zu klären, bevor das Optionszeitenmodell für die praktische Umsetzung bereit ist, etwa die Verträglichkeit mit betrieblichen Kriterien, die genaue Kostenaufteilung, die Einrichtung eines Fonds und die Effekte auf das Erwerbspotenzial.

Von der Idee bis zum Forschungsprojekt

Erstmals in eine breitere Öffentlichkeit gebracht wurde das Konzept des Optionszeitenmodells im siebten Familienbericht, der 2006 unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit“ veröffentlicht wurde. Dr. Karin Jurczyk hat das Konzept dort maßgeblich vorangetrieben. Als Mitglied der Sachverständigenkommission, die mit dem Verfassen des Berichts vom Bundesfamilienministerium beauftragt worden war, hat sie gemeinsam mit Prof. em. Dr. Ulrich Mückenberger das Modell weiterentwickelt. Eine zentrale Rolle spielte dabei eine Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“ im Jahr 2016. Danach konkretisierten Jurczyk und Mückenberger das Konzept im Rahmen des Forschungsprojekts „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“, das von April 2017 bis Oktober 2018 im Rahmen des „Fördernetzwerks interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“ (FIS) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert wurde.

Umsetzung und Ausblick

Der Abschlussbericht des Projekts ist unter dem Titel „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ erschienen und kann kostenlos im PDF-Format heruntergeladen werden. Er bietet umfassende Einblicke in die theoretischen Grundlagen, die praktischen Umsetzungen und die Herausforderungen des Modells. Das Optionszeitenmodell bietet die Möglichkeit, die traditionelle Norm der durchgängigen Vollzeitarbeit zu überwinden und flexible, selbstbestimmte Berufsbiografien zu fördern. Es könnte zu einer gerechteren Verteilung von Sorgearbeit beitragen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern und den Anforderungen einer digitalisierten Arbeitswelt gerecht werden.

Die Einführung des Optionszeitenmodells wäre ein bedeutender Schritt hin zu einer Arbeitswelt, die den individuellen Bedürfnissen der Menschen und den gesellschaftlichen Herausforderungen besser gerecht wird. Es ist an der Zeit, atmende Lebensläufe zu ermöglichen und das Potenzial von Erwerbstätigen voll auszuschöpfen, ohne die notwendige Fürsorgearbeit und persönliche Entwicklung zu vernachlässigen. Dies erfordert jedoch nicht nur politische und rechtliche Anpassungen, sondern auch ein Umdenken in der Gesellschaft und bei Arbeitgebern, die die Bedeutung von flexiblen Arbeitsmodellen und lebenslangem Lernen erkennen und unterstützen müssen.

Das Optionszeitenmodell bietet eine realistische und umsetzbare Vision für die Zukunft der Arbeit und der sozialen Absicherung. Es könnte dazu beitragen, eine gerechtere, flexiblere und menschlichere Arbeitswelt zu schaffen, in der jeder die Möglichkeit hat, sich beruflich und persönlich zu entfalten, ohne dabei gesellschaftlich wichtige Aufgaben zu vernachlässigen. Es liegt an uns, diese Vision zu verwirklichen und die Weichen für eine lebenswerte Zukunft zu stellen.

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